Mein Sommer in Berlin neigt sich dem Ende zu. Am Montagabend werde ich den Zug nach Hessen nehmen und dann im Verlauf der Woche mit meiner Mama nach Portugal aufbrechen. „Aufbrechen“ ist ein gutes Stichwort, denn in diesem Blogeintrag geht es um eine Intention, die ich mit dieser Reise verbinde.

Manchmal brauche ich etwas länger, um zum Punkt zu kommen, weil es mir wichtig ist, die Gedankengänge aufzuzeigen, die mich dorthin geführt haben. Denn genau dazu dient dieser Blog für mich: als ein Medium, über das ich meine Erfahrungen, Gedanken und Hintergrundwissen zu meiner Arbeit mit Menschen teilen kann, die sich dafür interessieren.

Mir fällt es mittlerweile selbst immer schwerer, einem Text meine volle Aufmerksamkeit zu schenken, dessen Zeichenanzahl die maximale Länge einer Instagram-Caption überschreitet. Aber wenn dich die Headline dieses Textes genauso anspricht wie mich, wirst du sicher bis zum Ende bei mir bleiben.

„Wenn Mütter verletzen: Umgang mit Mutterwunden“ war der Titel des gestrigen Conscience Live Podcasts mit Shanon Bobinger (Systemische Coachin, Supervisorin, Moderatorin und Autorin), Ana Lucao (Sozialarbeiterin und Poetin) und Sema Akbunar (Psychotherapeutin, Supervisorin und Dozentin), moderiert von Lando (Psychologe B.Sc. und Gründer des Podcasts).

Auf dem Podium und im Anschluss auch mit verschiedenen Gäst*innen im Raum haben sich über mehrere Stunden sehr ehrliche und intime Gespräche entfaltet. Die Stimmung war angenehm warm und gelöst. Ich würde nicht sagen „entspannt“, denn es war spürbar, wie schwer dieses Thema wiegt. Das Schöne war jedoch, wie es sich anfühlte, dieses Gewicht gemeinsam mit allen Anwesenden im Raum zu tragen.

Letzte Woche hat ein sehr guter Freund von mir eine Handvoll seiner Freund*innen darum gebeten, ihm zu helfen, einen mehrere Meter langen Tisch aus massivem Holz aus dem Keller eines Hauses in die Erdgeschosswohnung eines anderen Hauses zu befördern. Der Tisch musste zunächst durch das Kellerfenster nach draußen gehoben werden. Dann von draußen in den Hinterhof, dann vom Hinterhof in den Transporter und schließlich vom Transporter in die Wohnung, wo er an den vorgesehenen Platz gebracht wurde. Wir waren zu siebt.

Als ich den Tisch gesehen habe und mir vorstellte, wie wir ihn durch dieses Kellerfenster bekommen sollten, schien mir das im ersten Moment unmöglich. Wie sollten wir ihn überhaupt hochheben, wo greifen, wie drehen? Aber als wir uns dann Schritt für Schritt koordiniert haben, Ideen zusammenkamen, und Erfahrungswerte Einzelner, die das beim letzten Mal dabei waren oder schon einmal ähnlich große Möbel transportiert haben, eingeflossen sind, ging es plötzlich.

Als der Tisch dann im Hinterhof war, schien es nur Sekunden gedauert zu haben, ihn durch das Fenster zu bekommen. Auch als wir ihn zum Transporter getragen haben, war es eigentlich gar nicht so schwer. Was tatsächlich unmöglich gewesen wäre, wäre, wenn unser Freund die Aufgabe ganz allein hätte bewältigen müssen.

So oder so ähnlich hat es sich gestern in diesem Raum mit Shanon, Ana, Lando, Sema und euch allen, die dabei waren, angefühlt.

Für mich war es lange Zeit unvorstellbar, mich überhaupt mit diesem Thema auseinanderzusetzen, weil es so unfassbar schwer und unmöglich für mich war. Was es möglich gemacht hat, war:

  • Mein Wille, denn dadurch habe ich mich dafür geöffnet. Mich zu öffnen hat mir ermöglicht, Informationen aufzunehmen, darüber nachzudenken und mir zu erlauben, Gefühle zuzulassen, die dabei hochkommen. Ich habe angefangen, Erinnerungen aufzuschreiben und aus der Perspektive einer mittlerweile 39-jährigen Person auf die Situationen zu schauen, die ich als Kind erfahren habe.
  • Meine Entscheidung, mir zu erlauben, Unterstützung von anderen Menschen anzunehmen. Ich habe gelesen, was andere Menschen über das Thema schreiben, mich online für Seminare und Workshops angemeldet, manchmal daran teilgenommen, manchmal auch nicht. Auch die Entscheidung, gestern zu diesem Event zu gehen, obwohl es der erste Tag meines Zyklus war und ich sonst auch einfach den ganzen Tag im Bett verbracht hätte.

Ich habe mir das Ziel gesetzt, meine Heilung, mein langfristiges seelisches Wohlbefinden zu priorisieren. Dazu gehört ganz esseziell mein Bestes dafür zu tun, um mich und meine Beziehungen zu heilen oder einen gesunden Umgang mit meinen Verletzungen zu finden. Ganz zu Beginn war das auch ein wichtiger Punkt, der während des Podcasts besprochen wurde:

„Wenn wir uns nicht um unsere Wunden kümmern, bluten wir auf Menschen, die damit gar nichts zu tun haben, die diese Wunden nicht verursacht haben und die auch nicht die Macht besitzen, sie für uns zu heilen.“

Als ich die vergangenen Monate mit meiner Familie in den USA und vor allem mit meinen Geschwistern dort verbracht habe, konnte ich ganz klar beobachten und am eigenen Leib erfahren, wie es aussieht und wie es sich anfühlt, wenn ihre Vaterwunden bluten. Brutal ehrlich: Meine ganze Familie ist in Blut getränkt, das aus unseren Mutter- und Vaterwunden fließt.

Wenn wir intergenerationale Traumata aus der Metaebene betrachten, ist das wahrscheinlich bei uns allen so. Afrikanische, diasporische und afro-diasporische Familien haben durch rassistische und koloniale Gewalt ein noch schwereres Gewicht auf ihren Schultern als Familiensysteme, die nur die Folgen von Kapitalismus und Patriarchat ertragen müssen.

Wir alle existieren in den Schnittmengen dieser „Legacy Burdens“, dem generationellen Erbe, das uns mitgegeben wird, ob wir wollen oder nicht. Aber Menschen mit Versklavungsgeschichte, Menschen, deren Vorfahren Flucht und Vertreibung erlebt haben, und Menschen, die Genozid und Krieg überlebt haben, müssen dieses Erbe in einer Welt ertragen, in der die Sklavenhalterinnen, die Sklavenhändlerinnen, die Täter*innen den Krieg gewonnen haben. Dazu zählt vor allem auch die Verantwortung, weiter in dieser Welt überleben zu müssen, was nicht zuletzt die Ursache für viele der Wunden ist, die unsere Eltern uns zufügen, obwohl sie oft eigentlich nur das Beste für uns wollen.

Das ist eine Realität. Selbst für Menschen wie meinen Vater, der als Soldat für die größte Imperialmacht unserer Zeit in Kriege gezogen ist. Eine Entscheidung, die nicht wenige Schwarze Amerikaner*innen treffen, um durch die damit verbundenen Privilegien ein besseres Leben für sich und ihre Familien zu ermöglichen.

Aber auch wenn die Vereinigten Staaten von Amerika diese Kriege gewonnen haben, sind mein Vater und all seine Kinder als Verlierer*innen daraus hervorgegangen. Ein Bauer, der geopfert wurde, der mit 18 Jahren Berufssoldat wurde und heute mit Anfang 60 als Veteran in einem Pflegeheim leben muss.

Mein Vater wurde mit schwerer Demenz diagnostiziert. Aber das kapitalorientierte Gesundheitssystem der USA hat gerade mal das Nötigste für die gesundheitliche Versorgung eines Veteranen übrig, und das Patriarchat hat den Stolz meines Vaters derart geprägt, dass es ihm nicht erlaubt war, sich Hilfe zu suchen, um seine seelischen Wunden zu versorgen. Aus diesen Gründen ist es auch nicht ausgeschlossen, dass sein heutiger mentaler Zustand eine (selbstheilende) Reaktion seines Geistes auf eine viel zu lang vernachlässigte Wunde ist, die in der Psychologie als „long-term Post-traumatic Stress Disorder“ (PTSD) oder auf Deutsch „posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS) bekannt ist.

Ich konnte mich um meine Vaterwunde kümmern, bevor es zu spät war, meinen Vater in meinen Heilungsprozess zu involvieren. Ich danke Gott dafür, dass wir diese Chance hatten und wir beide sie rechtzeitig ergriffen haben. Meine Geschwister haben das nicht getan. Manche von uns bluten mehr als andere. Wir alle haben unseren Umgang damit gefunden, ob gesund oder nicht, bleibt auch da eine Frage der Perspektive.

Was ich aus der Zeit mit meiner Familie väterlicherseits mitgenommen habe, ist das Bewusstsein, dass es in meiner Macht liegt, Dinge anders zu machen, und dass ich alles habe, was es dafür braucht. Ich muss es nicht allein tun. Ich bin auch nicht allein mit dieser Zielsetzung. Die Kultur des Individualismus ist eine Kultur der postkolonialen Welt. Ich muss diese Kultur nicht anerkennen, und ich muss sie auch nicht leben, denn es gibt andere Menschen wie mich.

Die Zeit mit unseren Eltern in der materiellen Welt ist begrenzt. Darum ist die Zeit, die ich mit ihnen habe, kostbar. Wenn du dich entschieden hast, den Kontakt zu einem oder beiden deiner Eltern abzubrechen, wirst du deine Gründe dafür haben. Auch das kann ein gesunder Umgang für dich sein, wenn es dir damit besser geht. Für mich ist es anders.

Ich bin ohne meinen Vater aufgewachsen, und die Beziehung zu meiner Mutter war lange Zeit die einzige und wichtigste Beziehung für mich. Ich möchte, dass diese Beziehung meinen Weg weiter mit mir geht. Aber ich fühle, dass ich irgendwo mit ihr stehen geblieben bin. Ich fühle, dass da eine Verletzung ist, die diese Beziehung aufhält und die auch alle anderen Beziehungen in meinem Leben aufhält. Danke, dass du in diesem Text so lange bei mir geblieben bist und mitgelesen hast. Jetzt komme ich endlich zu meiner Intention, die ich am Anfang erwähnt habe:

Spoiler Alert! Ich weiß, du liest das hier, Mama.

Ich werde nächste Woche mit meiner Mama nach Portugal fahren. Es ist seit langer Zeit das erste Mal, dass wir wieder zusammen Urlaub machen. Ich bin 38 Jahre alt und werde im November 39. Meine Mutter wird im November 68. Als ich geboren wurde, war sie 28. In diesen knapp 40 Jahren war sie immer meine Mutter, nichts als meine Mutter.

Ich möchte die Frau kennenlernen, in der ich und mit der ich aufgewachsen bin. Ich möchte wissen, wer meine Mutter heute ist. Wie sie über sich und ihr Leben denkt, wie sie ihre Schwangerschaft und meine Kindheit erlebt hat, wie die Erinnerungen, die ich habe, aus ihrer Perspektive aussehen.

Mir kommen die Tränen, wenn ich jetzt darüber schreibe. Als ich gestern mit ein paar Menschen darüber gesprochen habe, habe ich gehört, dass das ein mutiges Vorhaben ist. Ja, Digga! Mir ist klar, wie aufwühlend diese Reise sein wird. Ich hoffe, wir bauen keinen Unfall, weil wir im Auto vor lauter Wasser in den Augen die Fahrbahn nicht sehen 😂. Vielleicht sollten wir die Gespräche besser dann stattfinden lassen, wenn ich nicht gerade fahre. Mama, mach dir keine Sorgen, wir haben Zeit, und du musst auch nicht die ganze Zeit meine Fragen beantworten. Wir machen auch Urlaub, trinken jede Menge Portwein oder Vinho Verde und essen lecker. Das wird toll! 😬👍🏽

Aber im Ernst: Ich gehe nicht davon aus, dass die Sache mit ein, zwei Gesprächen und einem gemeinsamen Urlaub gegessen ist. Wie alles im Leben ist auch der Umgang mit einer Mutterwunde oder die ersehnte Heilung ein Prozess. Ich gehe einen Schritt und dann noch einen und noch einen … Vielleicht auch nicht nur nach vorne, vielleicht auch zurück. Wichtig ist, dass ich gehe. Ich gehe mit meinen Vorfahren, mit all meinen Müttern (und Vätern) im Rücken. Ich gehe mit meiner Oma Erna ✨, meiner Grandma Ruby ✨, meiner Great Grandma Rosi ✨, meiner Great Great Grandma Elisabeth ✨ und mit all denen, die mir wohlgesonnen sind, deren Namen ich aber nicht kenne 🌀.

Dear Reader, ich freue mich auch, von dir zu lesen, wenn du deine Gedanken in einem Kommentar teilen möchtest, Ideen oder Erfahrungswerte für mich hast, die es mir vielleicht leichter machen. So wie die Beförderung dieses großen und schweren Tisches wird es mir helfen, das nicht allein tun zu müssen.

Es wird vielleicht etwas dauern, bis du wieder von mir liest. Es braucht ja auch Zeit, das alles sacken zu lassen, bevor ich darüber schreiben kann. Aber manchmal hilft auch das Schreiben beim Sackenlassen. Sobald die Podcast-Folge veröffentlicht wird, werde ich sie aber auf jeden Fall auch hier teilen.